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Wenn der Computer unsere Sprache spricht

Warum die gymnasiale Bildungsreform die falschen Prioritäten setzt

Die schweizerische Bildungspolitik steht vor einem fundamentalen Widerspruch: Während im Rahmen der WEGEM-Reform die Informatik als obligatorisches Grundlagenfach auf Kosten der Sprachfächer ausgebaut wird, macht die technologische Entwicklung genau diese Priorisierung fragwürdig. Das Aufkommen des sogenannten "Vibe Coding" – der Programmierung durch natürliche Sprache und künstliche Intelligenz – stellt die Legitimation des klassischen Informatikunterrichts grundlegend in Frage.

Die Revolution des Programmierens

Andrej Karpathy, einer der führenden Köpfe der KI-Entwicklung, brachte es 2023 auf den Punkt: "Die heisseste neue Programmiersprache ist Englisch." Was nach einer provokanten These klingt, beschreibt eine technologische Realität, die bereits Einzug in die Praxis hält. Beim Vibe Coding formuliert der Entwickler seine Anforderungen in natürlicher Sprache, während ein KI-System die technische Umsetzung übernimmt. Der Nutzer muss keine Variablen mehr deklarieren, keine Schleifen mehr programmieren – er muss präzise beschreiben können, was das System tun soll.

Diese Entwicklung ist nicht spekulativ, sondern längst Realität. Tools wie GitHub Copilot oder ChatGPT generieren heute Code, der syntaktisch korrekter ist als das, was die meisten Informatikstudenten im ersten Jahr produzieren. Die traditionelle Rechtfertigung des Informatikunterrichts – man müsse die "Fremdsprache" des Computers erlernen, um mit ihm zu kommunizieren – verliert damit ihre Grundlage. Der Computer spricht nicht mehr nur seine eigene Sprache. Er spricht unsere.

Das Paradoxon der Bildungsreform

Ausgerechnet in diesem historischen Moment, in dem natürliche Sprache zur universellen Programmiersprache wird, schwächt die WEGEM-Reform die Sprachfächer. Im Namen der Kompetenzorientierung wird die Linguistik – das strukturelle Verständnis von Sprache – zunehmend aus dem Unterricht verdrängt. Grammatik gilt als "träges Wissen", explizite Sprachanalyse als pädagogischer Ballast. Stattdessen dominieren "Can-Do"-Statements: Schülerinnen und Schüler sollen kommunizieren können, ohne die Architektur der Sprache zu verstehen.

Gleichzeitig argumentiert die Informatiklobby, repräsentiert durch den SVIA und finanziert durch die Hasler Stiftung, dass Schüler die "dahinterliegende Logik" der Informatik verstehen müssten. Man brauche mehr Unterrichtsstunden, um "Computational Thinking" zu vermitteln – strukturiertes Denken, Abstraktion, logische Zerlegung von Problemen. Diese Argumentation ist in sich schlüssig, offenbart aber einen eklatanten Widerspruch: Was für die Maschinensprache als unverzichtbar gilt, wird für die menschliche Sprache als verzichtbar erachtet.

Linguistik als Schlüsselkompetenz

Die Ironie dieser Entwicklung wird deutlich, wenn man die Anforderungen des Vibe Coding genauer betrachtet. Um ein KI-System zu instruieren, braucht es keine Python-Kenntnisse – aber es braucht extrem präzise sprachliche Fähigkeiten. Eine KI führt aus, was ihr gesagt wird. Ungenaue Formulierungen führen zu fehlerhaftem Code. Wer nicht in der Lage ist, logische Strukturen verbal zu explizieren, semantische Nuancen zu erfassen und komplexe Anforderungen hierarchisch zu ordnen, kann auch keine funktionierende Software programmieren – unabhängig davon, wie viele Python-Stunden er absolviert hat.

Die Analyse von Satzstrukturen, die Unterscheidung von Konjunktiv und Indikativ, die Hierarchisierung von Nebensätzen – all dies sind logische Operationen. Ein Schüler, der im Deutschunterricht lernt, eine komplexe Erörterung stringent aufzubauen, betreibt "Computational Thinking" mit natürlichen Variablen. Indem der Sprachunterricht jedoch Linguistik abbaut und sich auf oberflächliche Kommunikationskompetenz beschränkt, beraubt er die Schüler genau dieses Trainings.

Das Argument der digitalen Mündigkeit

Befürworter des Informatikausbaus argumentieren mit digitaler Souveränität: Man müsse verstehen, was uns lenkt. Wer die Algorithmen nicht begreife, sei der Technologie ausgeliefert. Diese Sorge ist berechtigt – doch die vorgeschlagene Lösung greift zu kurz. Die Komplexität moderner KI-Systeme ist so hoch, dass selbst Experten nicht mehr genau verstehen, warum ein neuronales Netz einen bestimmten Output generiert. Das "Verständnis der dahinterliegenden Logik", das im Gymnasium mit Basis-Algorithmen vermittelt werden kann, hat mit der Funktionsweise eines Large Language Models kaum noch etwas zu tun.

Wirkliche Mündigkeit gegenüber KI entsteht nicht durch das Nachprogrammieren von Sortieralgorithmen, sondern durch kritische Analyse: Woher kommen die Daten? Welche Vorurteile reproduziert die Sprache der KI? Ist die Argumentation schlüssig? Diese Kompetenzen liegen schwerpunktmässig in den Geisteswissenschaften. Die Ressourcenverschiebung hin zur technischen Informatik könnte paradoxerweise die digitale Unmündigkeit fördern, indem sie Technokraten ausbildet, die zwar programmieren können, aber die Ergebnisse nicht kritisch hinterfragen.

Der Kampf um die Stundentafel

Die praktischen Auswirkungen der Reform zeigen sich in den kantonalen Vernehmlassungen. Da die Gesamtstundenzahl nicht beliebig erweitert werden kann, führt die Einführung der Informatik als Grundlagenfach zu einem Verdrängungswettbewerb. In vielen Kantonen werden die Stunden für Sprachen gekürzt. Die Fachschaften wehren sich verzweifelt: Weniger Unterrichtszeit gefährde die Sprachkompetenz, die doch die Grundlage für alle anderen Fächer sei. Der Regierungsrat Basel-Landschaft warnte vor den "organisatorischen und finanziellen Folgen" der additiven Erweiterung. Der Kanton Zürich sprach vom "Wahl des kleinsten Übels".

Diese Verteilungskämpfe offenbaren eine tiefere Fehleinschätzung. Die Reform folgt einer Logik der Vergangenheit – dem vermeintlichen Fachkräftemangel bei Programmierern – während die technologische Realität diese Logik bereits überholt. KI automatisiert gerade die Einstiegsjobs im MINT-Bereich, während "Human Skills" – kritisches Denken, präzise Kommunikation, kulturelles Verständnis – an Wert gewinnen.

Ein Plädoyer für die Umkehr

Die WEGEM-Reform muss nicht scheitern, aber sie muss korrigiert werden. Informatik sollte am Gymnasium nicht abgeschafft, aber neu ausgerichtet werden: weg vom Syntax-Drill hin zu Systemverständnis, KI-Ethik und kritischer Analyse. Die eigentliche Programmierung kann mittels KI-Tools erfolgen. Dies spart Zeit, die derzeit für das Auswendiglernen von Befehlen verschwendet wird.

Die so gewonnenen Ressourcen und die bedrohten Sprachlektionen sollten für eine Renaissance der Linguistik genutzt werden. Nicht im Sinne eines verstaubten Grammatik-Drills, sondern als moderne "Digitale Linguistik": die Analyse von Sprachstrukturen, die Logik der Argumentation, die Präzision im Ausdruck. Diese Kompetenzen sind keine pädagogische Folklore, sondern die mächtigsten technischen Fertigkeiten in einer Welt, in der natürliche Sprache Code generiert.

Menschliche Sprache ist das universelle Interface – für die Kommunikation mit Menschen und, dank Vibe Coding, mit Maschinen. Grammatikalische Strukturen und logische Argumentation sind seit Jahrtausenden stabil. Programmiersprachen-Syntax veraltet alle zehn Jahre. Die Wahl ist klar: Wir sollten dort investieren, wo der Ertrag langfristig und universell ist.

Fazit

Die WEGEM-Reform bereitet Schülerinnen und Schüler auf eine Welt vor, in der man noch selbst programmieren muss. Gleichzeitig nimmt sie ihnen die Werkzeuge, die sie brauchen, um die KI-Systeme der Zukunft präzise zu steuern: tiefes sprachliches und logisches Verständnis. Dies ist mehr als ein bildungspolitischer Fehler – es ist eine verpasste historische Chance.

 

Wenn der Computer unsere Sprache spricht, müssen wir unsere Sprache beherrschen. Die Informatik wurde lange als "Fremdsprache" legitimiert. Nun, da die Maschine endlich unsere Sprache gelernt hat, ist es an der Zeit, unsere eigene Sprache wieder ernst zu nehmen. Die Bildungsreform muss diesen Paradigmenwechsel anerkennen – bevor eine ganze Generation mit den falschen Werkzeugen für die Zukunft ausgestattet wird.

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