Ein Plädoyer für digitale Souveränität und pädagogische Innovation an den Luzerner Gymnasien
Von Boris Ehret, Gymnasiallehrer Französisch
Im Jahr 2032 werden die ersten Luzerner Schülerinnen und Schüler ihre Maturität nach dem neuen Rahmenlehrplan (WEGM) ablegen. Was in der politischen Planung wie ferne Zukunft klingt, ist für die Schulentwicklung bereits „übermorgen“. Mit der Einführung der Begleiteten Selbstlernzeit (BSZ) ab 2027/28 steht den Gymnasien ein Paradigmenwechsel bevor, der weit radikaler ist als blosse Stundenplanarithmetik.
Wir stehen vor einer Weggabelung: Entweder wir degradieren die BSZ zu einer glorifizierten Hausaufgabenbetreuung, in der hochqualifizierte Lehrpersonen Aufsicht führen, während Lernende Arbeitsblätter ausfüllen. Oder wir nutzen dieses Gefäss, um echte Studierfähigkeit und digitale Kompetenz zu vermitteln. Dieser Artikel argumentiert, warum der zweite Weg nur gelingt, wenn wir uns von Papier lösen und beginnen, eigene, KI-gestützte Lernumgebungen zu entwickeln – und warum wir damit jetzt beginnen müssen.
1. Die Diagnose: Warum das "Dossier auf Papier" ausgedient hat
Die Einführung der BSZ trifft auf eine technologische Realität, die das traditionelle "Stillarbeiten" obsolet macht. Die grösste Bedrohung für den Kompetenzerwerb in der Selbstlernzeit ist die Evadierung durch generative KI.
Wenn wir Schülerinnen und Schülern am Montag ein Papier-Dossier geben, das am Freitag „fertig“ sein muss, laden wir zur Täuschung ein. Aufgabenformate wie „Fasse Kapitel 3 zusammen“, „Übersetze den Text“ oder „Fülle den Lückentext aus“ werden von Tools wie ChatGPT oder DeepL in Sekunden erledigt. Das Resultat ist perfekt, der kognitive Prozess beim Lernenden gleich null. Wir trainieren so nicht Kompetenzen, sondern intelligenten Betrug.
Das Paradoxon der Autonomie
Zudem zeigt die Bildungsforschung (u.a. Hattie, Hilbe), dass Selbstreguliertes Lernen (SRL) keine Voraussetzung ist, die Schüler mitbringen, sondern eine Kompetenz, die sie erwerben müssen. Werden Lernende unvorbereitet in die Autonomie entlassen, scheitern oft gerade jene, die Struktur benötigen.
Es braucht Scaffolding (ein pädagogisches Stützgerüst). Ein Papierstapel bietet kein Scaffolding. Er reagiert nicht, er korrigiert nicht, er motiviert nicht. Eine intelligente digitale Lernumgebung hingegen kann genau das.
2. Die Lösung: Vom Arbeitsblatt zur interaktiven App
Anstatt darauf zu hoffen, dass Verlage passgenaue Lösungen liefern, müssen wir Lehrpersonen zu „Learning Designern“ werden. Die Lösung liegt in interaktiven, prozessorientierten Lernprogrammen, die den Lernweg dokumentieren, statt nur das Ergebnis abzufragen.
Warum ist dieser Ansatz pädagogisch überlegen?
- Prozess statt Produkt: In einer App wird jeder Klick, jede Korrektur und jede Zeitspanne getrackt. Wir sehen nicht nur, dass die Aufgabe gelöst wurde, sondern wie.
- Unmittelbares Feedback: Während der Lehrer das Papier-Dossier erst Tage später korrigiert, meldet die App den Fehler im Moment der Entstehung – genau dann, wenn das Gehirn aufnahmebereit ist.
- Gamification als Motivator: Nicht durch oberflächliche Punkte, sondern durch sichtbar gemachten Fortschritt (Progress Bars) und Low-Stakes-Testing (spielerisches Versuchen ohne Notendruck) wird die intrinsische Motivation gesteigert. Gerade bei Sekundarschülern ist dies entscheidend, um die „Lust am Dranbleiben“ zu fördern.
Der Sonderfall Französisch: Die Lücke als Chance
Besonders im Fach Französisch ist der Handlungsdruck akut. Das an Luzerner Gymnasien verwendete Lehrmittel „Le Cours Intensif“ (Klett) endet nach der 4. Klasse. Für das 5. und 6. Gymnasium existiert schlichtweg kein geeignetes Kursbuch.
Aktuell erstellen Lehrpersonen oft in isolierter Einzelarbeit eigene Materialien. Dies ist ineffizient und qualitätsmässig volatil. Eine kollaborative Entwicklung digitaler Tools für die Oberstufe würde nicht nur diese Lücke schliessen, sondern auch sicherstellen, dass alle Luzerner Maturanden auf vergleichbarem Niveau und mit kulturell relevanten, aktuellen Inhalten (anstatt veralteten Buchkapiteln) vorbereitet werden.
3. Die technologische Revolution: App-Entwicklung ohne Code
Der häufigste Einwand lautet: „Lehrpersonen sind keine Programmierer.“ Das ist korrekt, aber dank der KI-Revolution auch nicht mehr nötig.
Wir erleben gerade die Demokratisierung der Softwareentwicklung durch Vibe Coding und No-Code-Tools.
- Was ist das? Lehrpersonen beschreiben in natürlicher Sprache, was die App tun soll (z.B. „Erstelle ein Vokabel-Quiz, bei dem falsche Antworten am Ende wiederholt werden“). Eine KI schreibt den Code im Hintergrund.
- Agentische Systeme: Wir können KI-Tutoren programmieren, die autonom handeln. Ein solcher „Agent“ erkennt beispielsweise, wenn ein Schüler wiederholt Fehler beim Subjonctif macht, und schaltet automatisch eine Erklärungseinheit dazwischen, bevor er den Lehrer via Dashboard informiert.
Dies ist keine Zukunftsmusik. Auf meiner Plattform borisehret.ch experimentiere ich bereits erfolgreich mit solchen selbstgebauten Tools. Der Zeitaufwand sinkt durch KI von Wochen auf Stunden.
4. Konkrete Szenarien für die BSZ 2028
Wie könnte eine BSZ-Einheit im Fach Französisch konkret aussehen, die immun gegen KI-Schummeln ist und tiefes Lernen fördert?
Szenario A: Der mündliche Literatur-Check
Statt einer schriftlichen Zusammenfassung zu Camus' L’Étranger (die ChatGPT schreiben kann), nutzt der Schüler eine Web-App.
- Aufgabe: „Beschreibe die Stimmung bei der Beerdigung mündlich in drei Sätzen.“
- Technik: Die App nimmt auf, transkribiert via Speech-to-Text und analysiert Inhalt sowie Aussprache.
- Mehrwert: Der Schüler muss den Text gelesen haben und sprechen üben. Die Lehrperson sieht im Dashboard sofort, wer den Inhalt verstanden hat.
Szenario B: Der kontextsensitive Grammatik-Coach
Statt Lückentexte auszufüllen, chattet der Schüler mit einem KI-Bot, der die Rolle eines pingeligen Pariser Kellners spielt.
- Aufgabe: Bestelle ein Menü zwingend im Conditionnel.
- Interaktion: Wenn der Schüler schreibt „Je veux un café“, antwortet der Bot: „Pardon? Das ist unhöflich. Versuchen Sie es mit ‚Je voudrais…‘“.
- Mehrwert: Grammatik wird in einem authentischen, sozialen Kontext angewendet.
5. Strategischer Handlungsbedarf: Warum wir 2025 starten müssen
Wenn wir jetzt nicht handeln, werden wir zur Einführung der BSZ gezwungen sein, auf kommerzielle Standardsoftware zurückzugreifen. Diese ist teuer, oft nicht auf den spezifischen Luzerner Lehrplan abgestimmt und schafft neue Abhängigkeiten. Zudem verpassen wir die Gelegenheit, die Digitalkompetenz im eigenen Kollegium aufzubauen.
Der Fahrplan zur digitalen Souveränität:
- Pilotphase (2025-2027): Bildung von „Taskforces“ in den Fachschaften (z.B. Französisch Oberstufe). Entwicklung und Testen erster Prototypen mittels Vibe Coding.
- Ressourcen-Shift: Die Politik fordert Kostenneutralität. Diese erreichen wir nicht durch Sparen, sondern durch Umverteilung: Weniger Budget für statische Lehrmittel-Lizenzen, mehr Ressourcen für die Entwicklung schuleigener, wiederverwendbarer Software.
- Kollaboration: Die Entwicklung darf nicht an einzelnen Schulen hängenbleiben. Ein Pool an Open-Source-Lernapps, der allen Luzerner Gymnasien zur Verfügung steht, minimiert den Aufwand für alle.
Fazit: Mut zur Eigenentwicklung
Die Begleitete Selbstlernzeit ist eine historische Chance, den Unterricht vom reinen Stoffdurchnehmen zur echten Kompetenzentwicklung zu transformieren. Doch Struktur braucht Inhalt.
Wenn wir Lehrpersonen die Hoheit über unsere Arbeitsmaterialien behalten wollen, dürfen wir uns nicht auf Verlage verlassen, deren Geschäftsmodelle noch im Papierzeitalter stecken. Die Werkzeuge liegen bereit. Wir müssen nur den Mut haben, sie in die Hand zu nehmen. Fangen wir an.
Zusammenfassende Eckdaten für Entscheidungsträger
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Aspekt |
Status Quo / Risiko |
Vision / Lösung |
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Material |
Papier-Dossiers / Bücher |
Interaktive Web-Apps |
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KI-Gefahr |
Hohe Gefahr der "Evadierung" (Lösung durch KI erstellen lassen) |
Prozessorientierung macht Schummeln sinnlos |
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Rolle LP |
Korrektor & Aufsicht |
Lern-Designer & Coach |
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Kosten |
Jährliche Lizenzgebühren an Verlage |
Einmalige Entwicklung (Zeit), danach günstige Wartung |
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Startpunkt |
Warten auf 2028 = zu spät |
2025/26: Entwicklung & Pilotierung starten |

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